Magazin: CD-Kritiken
Godowsky: Complete Studies on Chopin

Godowsky: Complete Studies on Chopin: Emanuele Delucchi, Klavier
Reise durchs pianistische Hochgebirge
Emanuele Delucchi präsentiert eine virtuose, aber nie aufgeregte Darstellung der Chopin-Bearbeitungen und anderer Werke von Leopold Godowsky, dem 'Hexenmeister des Klaviers'.
Eine Art Mount Everest der Klavierliteratur, die ultimative Herausforderung für jeden Pianisten – das sind die 'Studien über Etüden von Frédéric Chopin' aus der Feder von Leopold Godowsky. Sind die Originale, Chopins Etüden opp. 10 und 25, schon knifflig genug, so setzte Godowsky hier nochmal eins drauf und versah die Werke mit zusätzlichen Stimmen, Kontrapunkten und weiteren rhythmischen Raffinessen. Dem seinerzeit als 'Hexenmeister des Klaviers' gefeierten Pianisten und Komponisten ging es aber nicht nur um eine reine Erhöhung des Schwierigkeitsgrades, sondern um eine musikalische Annäherung an (und vielleicht auch Auseinandersetzung mit) Chopin – gleichsam eine nachschaffende Verbeugung vor dem großen polnischen Kollegen.
Manchen Etüden widmete sich Godowsky mehrfach, so dass es zu op. 10 nicht weniger als 27 Studien gibt, einige davon auch für die linke Hand alleine. In zwei Bearbeitungen kombinierte Godowsky auch, nahm also je eine Etüde aus op. 10 und op. 25, auf die er noch seine eigenen Noten 'draufsetzte'. Wer dieses Hochgebirge erklimmen will, braucht nicht nur die nötigen technischen Mittel, sondern auch ein erhebliche Maß an Ausdauer.
Der italienische Pianist Emanuele Delucchi nimmt die Herausforderung nicht nur an, sondern ergänzt auf diesem 3-CD-Set die Chopin-Bearbeitungen auch noch mit Originalwerken und weiteren Arrangements Godowskys. Neben Chopin spielt dabei vor allem Franz Schubert eine Rolle, dessen Anfangstakte der 'Unvollendeten' bildeten für Godowsky die Grundlage einer Reihe von 44 Variationen, die in ihrer Schwierigkeit den Chopin-Bearbeitungen kaum nachstehen. Nicht ganz so anspruchsvoll, aber immer noch schwer genug sind Lied-Transkriptionen nach Originalen von Strauss, Bizet, Godard und Albeniz.
Unaufgeregte Virtuosität
Der sehr positive Gesamteindruck, den diese Veröffentlichung hinterlässt, basiert vor allem auf einer unaufgeregten Virtuosität, die praktisch nie in den Vordergrund gerückt wird. Delucchi verfügt über das notwendige manuelle Können, um die Stück zu bewältigen, will aber keine pianistischen Feuerwerke abbrennen, sondern vielmehr das lyrische Potential der Bearbeitungen offenlegen. Das gelingt ihm hervorragend – dabei überzieht er keine Tempi, auch nicht die schnellen Tempi, was immerhin grundsätzlich denkbar gewesen wäre. Vielmehr gelingt es dem Pianisten, die vielfältigen Strukturen und Texturen der (meist kurzen) Stücke gleichsam offenzulegen, ohne sich dabei im dichten polyphonen Gewebe zu verlieren. Das klappt auch und gerade in den Stücken für die linke Hand alleine hervorragend, bei denen man beim unbefangenen Anhören niemals glauben würde, dass hier wirklich nur mit einer Hand gespielt wird, so raffiniert hat Godowsky komponiert.
Kraftvolles Auftrumpfen kommt hier und da durchaus vor, etwa in den Variationen über die Anfangstakte von Schuberts 'Unvollendeter', doch insgesamt präsentiert Delucchi alle Stücke – Bearbeitungen wie Originale – auf eine fast schon entspannt wirkende Art, die von einem sehr ausgewogenen und natürlichen Klangbild unterstützt wird. Herrlich melodisch erklingen so die fünf Schubert-Bearbeitungen, in denen Godowsky die unter anderem von Liszt gepflegte Tradition der Lied-Transkriptionen des Wiener Meisters kongenial fortsetzt.
Wollte man an dieser Zusammenstellung unbedingt etwas kritisieren, so vielleicht die Tatsache, dass Godowsky ein besserer Arrangeur als Komponist war. Die Originalkompositionen auf der dritten CD wirken im Vergleich zu den meisterhaften Transkriptionen und Arrangements seltsam blass – offenbar brauchte Godowsky vorhandenes Material, mit dem er arbeiten konnte, um sein ganzes Können zu entfalten. Die pianistische Leistung von Delucchi schmälert dies freilich nicht, der Italiener darf nach dieser Aufnahme den Anspruch erheben, in einem Atemzug mit führenden Godowsky-Interpreten wie Hamelin und Scherbakov genannt zu werden. Zumal hier und da auch ein wenig fast schalkhafter Humor aufblitzt – etwa in der wunderbar schmissigen Strauss-Bearbeitung 'Wein, Weib und Gesang', bei der man fast schon den Walzer mittanzen möchte. Eine lange und beglückende Tour durchs pianistische Hochgebirge, die nicht nur Klavierfreunde begeistern wird.
Dr. Michael Loos, 10.04.2023
Interpretation:
Klangqualität: Repertoirewert: Booklet: |
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