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Carl Reinecke: Complete Works for 2 Pianos

Details zu Carl Reinecke: Complete Works for 2 Pianos: Genova & Dimitrov Piano Duo

Carl Reinecke: Complete Works for 2 Pianos: Genova & Dimitrov Piano Duo

Mehr als vier Hände

Das Duo Genova-Dimitrov bietet an zwei Flügeln eine reiche Reinecke-Lese.

Carl Reineckes Schaffen für zwei Klaviere ist eine vielgestaltige Angelegenheit und deckt fasst seien gesamte kompositorische Schaffensspanne ab, die mehr als sechzig(!) Jahre umfasste. War er während seiner Studienzeit in Leipzig hörbar Zeitgenosse Mendelssohns oder Schumanns, zeigen die folgenden Jahrzehnte deutliche Weiterentwicklung, wenn auch die musikalische Entwicklung seit Ende des 19. Jahrhunderts ihn in Sachen hörbare Fortschrittlichkeit klar überholte. Dabei verließ ihn die kompositorische Experimentierlust nie, und die frühen Variationen op. 6 über ein eigenes Thema (1844) oder die Bach-Variationen op. 24 (1849) spannen ein weites Feld der Materialverarbeitung auf, immer wieder äußerst originell, wenn auch harmonisch in klar gegebenen Geleisen, die nur geringfügig erweitert werden. Betrachtet man aber de Kunstverstand, mit dem er etwa in polyphonen Passagen den einzelnen Händen unterschiedlichste ‚Register‘ zuweist, hören wir unmittelbar, wie faszinierend Musik für zwei Klaviere sein kann und warum es fast zwangsläufig Musik für zwei Klaviere sein muss. Reineckes Klaviertexturen sind virtuoser als jene mancher Zeitgenossen, und dies hat ihm um 1900 den Vorwurf der musikalischen Oberflächlichkeit eingetragen; nun, heute wissen wir es besser.

Nach 1850 gab Reinecke die Variationenform für zwei Klaviere auf – zu eng wurde ihm das traditionell erwartete Korsett; und obschon er der Variationstechnik treu blieb, hören wir ab 1859 Impromptus oder, wie er es später nennt, Improvisatas über Themen anderer – hier hängt er mehr der Linie Liszts als der Linie Schumann-Brahms an. Reineckes Changieren zwischen den verschiedenen Tendenzen von Musik in den deutschsprachigen Ländern hat gerade aus heutiger Sicht besonderen Reiz. Die Improvisationen beziehen sich auf ganz unterschiedliche Vorwürfe, auf ein Motiv aus Schumanns ‚Manfred‘-Schauspielmusik (op. 66), auf das aus dem französischen Barock stammende ‚Volkslied‘ ‚La Belle Grisélidis‘ (op. 94, 1868) und auf eine Gavotte von Christoph Willibald Gluck (op. 125, 1873). Dieses ‚Sich-frei-Schwimmen von gegebenen Formen‘ zeigt einen Komponisten, der sich immer wieder neu erfindet. Sein ‚Variationsschaffen‘ für zwei Klaviere krönt Reinecke mit einem ‚Concert-Allegro‘ über das Finale von Mozarts F-Dur-Klavierkonzert KV 459 (1903); 1919 sollte Ferruccio Busoni mit seinem Duettino concertante eine freie Transkription des Mozart-Finales schaffen, womöglich eine Art Gegenbild zu Reineckes Concert-Allegro.

Beachtliche Wirkung

Ergänzt wird dieser Schaffenskorpus durch die Bilder aus Süden op. 86 (Vier Stücke in Anlehnung auf Schumanns ‚Lieder aus Osten‘, 1865) sowie die 1898 entstandenen Vier Stücke op. 241, die zusammen mit den drei Sonaten op. 240a und 275 (1898–1905) das bedeutende Spätschaffen Reineckes für zwei Klaviere bilden; hier hören wir Brahms und andere Zeitgenossen, selbst den jungen Reger über die Schulter lugen, wir hören, wie Reinecke seine Zeit prägte. Hier fließen weite Bögen, scheinbar endlos und doch genau kalkuliert, scheinbar locker-leicht und doch mit hinreichend Tiefgang; die Metrik wird immer wieder konterkariert, große Gesten sind rar, und doch ist die Musik von beachtlicher Wirkung – besonders die umfangreiche dritte Sonate.

Vier Adaptionen von Orchesterwerken komplettieren Reineckes Schaffen für zwei Klaviere. Solange die Orchesterfassungen nicht eingespielt sind, darf diskutiert werden, ob die Konzerttranskriptionen der Fest-Ouvertüre op. 148 (1878), der 1886 entstandenen Variationen über den Choral ‚Ein feste Burg ist unser Gott‘ op. 191 (die Klavierfassung des Orchesterwerks ‚Zur Reformationsfeier‘, mit apotheotischem Erscheinen von Händels ‚Halleluja!‘), der Ouvertüre zu Julius Leopold Kleins Trauerspiel ‚Zenobia‘ op. 193 (1885-87) sowie des Prologus solemnis in Form einer Ouvertüre op. 223 (1893) hinreichend zum Verständnis Reineckes beitragen; handwerklich gut gemachte, effektvolle Musik, vorbildlich für die neue Besetzung umgearbeitet, haben wir aber allemal.

Das Klavierduo Aglika Genova und Liuben Dimitrov scheinen keine technischen Schwierigkeiten bei Reinecks Musik zu kennen – zumeist arbeiten sie die Charakteristika klar heraus. Dennoch fällt auf, dass ihnen manche Stücke weniger zu liegen scheinen als andere – das Mozart-Allegro gerät bei ihnen etwas etüdenhaft, und bei den Orchestertranskriptionen leuchten die Farben etwas weniger schillernd als bei anderen werken. Insgesamt eine aufnahmetechnisch vorbildliche, interpretatorisch empfehlenswerte (mit nur winzigen Einschränkungen) Einspielung auf 3 CDs.


Dr. Jürgen Schaarwächter, 30.03.2023

Label: cpo
Interpretation: 
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Booklet: 




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