Marc-André Hamelin
Marc-André Hamelin über Facetten der Virtuosität
"Das Ziel ist, eine musikalische Botschaft freizusetzen"

Der kanadische Pianist Marc-André Hamelin erweist sich als ein besonnener, eleganter Herr. Seine Stimme geht ruhig und klar durch die Sätze ? so durchdacht wie humorvoll. Das mag auf den ersten Blick nicht so recht zu dem donnernden Bild passen, das man sich aus der Ferne oder durch die Ohren von einem Tastenlöwen, einem ?Supervirtuosen? macht. Das tut es auch auf den zweiten Blick nicht: Der Eindruck eines besonnenen, ernsten Musikers ist der richtige. Marc-André Hamelin, 1961 in Montreal geboren, wurde 2003 zum Officer of the Order of Canada und 2004 zum Chevalier de l?Ordre du Québec ernannt. Unter zahlreichen Preisen wurde er nicht weniger als zehn Mal mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet ? eine Anerkennung, die wohl gleichermaßen seiner technischen und musikalischen Brillanz als auch seinem Engagement für entlegenes, wenig bekanntes Repertoire gilt. Sein intelligenter Humor lässt sich auch in seinen eigenen Kompositionen erleben, etwa in dem Zyklus ?12 Études in all the minor keys? (1986-2009) und den Variationen über ein Paganini-Thema aus dem Jahr 2011. Mit klassik.com-Autor Tobias Roth sprach Marc-André Hamelin über Virtuosität im Allgemeinen, im Besonderen und bei Joseph Haydn.
Herr Hamelin, worin besteht für Sie die oft genannte, aber doch so schwer zu fassende Qualität des Virtuosen?
Zuerst muss gesagt werden, dass ein Konzert an keiner Olympiade teilnimmt. (lacht) Virtuosität kann sich also nicht im Begriffsfeld ?höher, schneller, weiter? abspielen, obwohl man oft den Eindruck bekommt, dass es hauptsächlich um Schnelligkeit geht, wenn von Virtuosität gesprochen wird. Als Virtuosen werden, ob sie wollen oder nicht, Musiker bezeichnet, die außergewöhnliche technische Fähigkeiten auf ihrem Instrument zeigen. Dabei kann die Musik ins Hintertreffen geraten. Für mich besteht Virtuosität in etwas sehr viel Grundsätzlicherem, nämlich eine überlegene, gesteigerte Verfügungsgewalt über alle Gestaltungsmöglichkeiten, die einem Künstler zur Verfügung stehen, sei es körperlich oder geistig. Es geht um einen hoch entwickelten Sinn für Spielräume. Wenn diese Fähigkeit ganz ausgeschöpft wird und mit dem Ziel verbunden ist, eine musikalische Botschaft zu verwirklichen und freizusetzen, ist das für mich Virtuosität. Die Zurschaustellung von technischen Fähigkeiten, von Geschwindigkeit, all das interessiert mich überhaupt nicht.
Vielleicht liegt es auch daran, dass sich mit der Gestalt Paganinis das Urbild des Übervirtuosen verbindet. Er ist eine Art Gründervater, ihm ist es erlaubt, Virtuosität als Selbstzweck und Irrsinn zu komponieren.
An dieser Stelle würde ich gerne eine kleine Abschweifung zum Begriff des Über- oder Supervirtuosen machen. Diesen Begriff habe ich einige Jahre lang in meiner offiziellen Biographie benutzt. Das kam daher, dass der Begriff von einem Kritiker in der Besprechung einer meiner ersten CDs verwendet wurde. Mit diesem Begriff konnte ich sehr viel mediale Aufmerksamkeit binden, aber inzwischen benutze ich ihn nicht mehr, weil mir aufgegangen ist, dass das Wort ?Supervirtuose? meinem eigentlichen Anliegen entgegenarbeitet. Natürlich hängt mir das noch nach; ich werde zuweilen noch so bezeichnet, und deshalb will ich hier deutlich sagen, dass mir diese Bezeichnung völlig widerstrebt. Es gibt so viele verschiedene Zugangsweisen zur Virtuosität. Ein wichtiger Aspekt von Virtuosität ist gerade das sehr langsame und sehr leise Spiel, die Kunst, eine Linie aufrecht zu erhalten, eine große Struktur zu tragen.
Sie haben vor Kurzem auch Haydn eingespielt ? ist auch da der ?stille? Aspekt der Virtuosität am Werk, um die Klugheit der Struktur, die Sparsamkeit der Mittel und die Spannung der Linien zur Geltung zu bringen?
Diese Musik stellt vieldimensionale Ansprüche. Für viele Musiker gibt es nichts Schwereres, als einen langsamen Satz von Haydn oder Mozart ? wirklich überzeugend in der Darstellung, als ein geschlossenes Wesen, das bei aller Langsamkeit einen ganz bestimmten Zweck verfolgt. Hier muss der Musiker wirklich über alle Farben seiner Palette verfügen, eine Unendlichkeit von Farben unter Kontrolle halten. Das ist eine größere Schwierigkeit als so manche physische Herausforderung. Während Liszt dem Klavier orchestrale Dimensionen entlockt, ist es bei Haydn gerade die Sparsamkeit, die Phantasie freisetzen kann. Ich könnte nicht sagen, welcher Ansatz ?pianistischer? ist. Auch versuche ich nie, etwa bestimmte Instrumente auf dem Klavier nachzuahmen, sondern so viele Farben wie möglich zu entfalten, deren Vielfalt jeder Hörer für sich interpretieren kann. Das Klavier hat so unheimliche viele Möglichkeiten. Das Schöne ist, dass man als Musiker die Möglichkeiten des Instruments immer besser kennenlernt; man entdeckt immer mehr mit den Jahren. Es gibt ja diese alte Diskussion, dass es keinen Unterschied mache, ob ein Finger oder die Spitze eines Regenschirms die Taste des Klaviers drückt. Mit Verlaub ? wer das wirklich glaubt, tut mir leid. Man denke zudem an all die Magie, die man mit dem Pedal entfesseln kann! Das wird oft unterschätzt oder gleich unterschlagen. Das Pedal ist ja nicht an oder aus, es geht um die Zwischenräume. Und natürlich klingt jedes Instrument anders, auch das macht viel von der Schönheit aus.
Das Gespräch führte Tobias Roth.
(11/2013)