Michael Gees
Michael Gees über seine neueste CD, die schöpferische Kreativität, die in jedem steckt, Improvisation und die musikalische Ausbildung von heute
"Das Prinzip Inspiration zählt für unsere Generation nicht"

Michael Gees begann schon als Kleinkind mit dem Klavierspiel. Im Alter von acht Jahren hatte er bereits den Steinway-Wettbewerb gewonnen: eine frühe Karriere, aus der er mit 15 ausbrach, um sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen. Heute ist Gees weltweit als Solist und Liedbegleiter tätig. Der Pianist und Komponist, der auch an der Hochschule für Musik und Tanz Köln unterrichtet, leitet darüber hinaus ein Theater in Gelsenkirchen. Seine eigentliche Leidenschaft gilt jedoch seit jeher der Improvisation. Diese Passion lebt Gees auf seiner neuesten CD aus, auf der er sich mit der musikalischen Welt von Erik Satie auseinandersetzt. ?ImproviSatie? ist nicht nur ein Dialog mit der Klangsprache des Franzosen, der vielen als Mitbegründer der musikalischen Moderne gilt. Diese CD gewährt auch einen tiefen Einblick in die künstlerische Welt von Michael Gees. Miquel Cabruja traf den Pianisten in Köln und sprach mit ihm über ?ImproviSatie?, schöpferische Kreativität und das Misstrauen unserer Zeit gegenüber Inspiration.
Herr Gees, seit Ihrer frühesten Kindheit spielen Sie Klavier?
?ich begann mit drei Jahren und erschloss mir im Grunde genommen selbst die Grundlagen des Klavierspiels. Mit fünf konnte ich dann alles spielen, was ich mir vorstellte. Ich hatte mir eine eigene Welt aufgebaut.
Eine Welt, die bereits sehr viel mit Improvisation zu tun hatte.
Nur! Ich habe gar nichts anderes gemacht. Im Grunde habe ich zwei Jahre lang durchimprovisiert.
Ihre Eltern waren beide Sänger. Wie reagierten sie auf Ihre Musik?
Meine Mutter sagte mir immer, ich solle doch endlich anständige Sachen spielen. Sie gehörte zu den Menschen, die zwischen anständiger und unanständiger Musik unterscheiden. Mein Vater war anders, reagierte fantasievoll und ging mit mir auf Entdeckungsreise. Das war für uns beide ein tolles Erlebnis.
Das Klavier als Passion?
Im wahrsten Sinne des Wortes. Das Klavierspiel ist sicher das, worunter ich am meisten gelitten habe in meinem Leben. Mein Elend begann mit dem Klavierunterricht, und mein Studium wurde zu einer wirklichen Leidensgeschichte. Deswegen bin ich auch ausgebüxt, habe auf archäologischen Grabungen geholfen und bin auf einem Küstenmotorschiff zur See gefahren. Nach einem Jahr stellte ich aber fest, dass dies nichts für mich war, denn ohne Abitur hätte ich nie Kapitän werden können.
Mit Ihrer neuesten CD ?ImproviSatie? wären Sie demnach genau dort, wo Sie am liebsten sind ? in Ihrer musikalischen Welt als Ihr eigener Chef?
Genau! Und ich bin sehr glücklich damit, dass ein internationales Plattenlabel wie Challenge Records auf die Idee gekommen ist, mich damit zu betrauen.
Wieso haben Sie sich für Musik von Erik Satie entschieden?
Was mich an Satie schon immer interessiert hat, war die Tatsache, dass er von vielen als Erfinder der musikalischen Moderne bezeichnet wird. Das ist ja eine ziemlich sensationelle Aussage, wenn man bedenkt, was gleichzeitig etwa in Bezug auf die Auflösung der Tonalität passiert ist. Stattdessen geht Satie erst recht in die Tonalität hinein und arbeitet mit bekannten Strukturen, so dass man das Neue an seiner Musik immer fasslich findet. Deswegen eignet sich Satie auch wunderbar zur Improvisation: Er schreibt Musik ohne Schlussstrich. Bevor ich ins Aufnahmestudio ging, hatte ich Stücke wie ?Crépuscule matinal?, die erste, vierte und fünfte ?Gnossienne?, die erste ?Gymnopédie? oder die ?Danses de travers? Nr. 2 und 3 immer wieder exploriert. Und natürlich hatte ich diese Kompositionen auch daraufhin abgeklopft, wo ich Startfenster sehe: Was reizt mich an der Musik am meisten, wo kann ich meiner Fantasie freien Lauf lassen? Die Frage, wo ich bei meiner Reise ankommen würde, ließ ich aber auch für das Tonstudio offen.
Gibt es Musik, an die Sie sich zum Improvisieren nicht herantrauen?
Die ?Appassionata? von Beethoven vielleicht, denn das ist geronnene Improvisation. Aber im Grunde kann ich mit jeder Musik improvisieren. Ein Notenbild inspiriert mich eher dazu davon abzuweichen als zu erfüllen, was geschrieben steht. Das mache ich mir übrigens auch zunutze, wenn ich in Konzerten improvisiere. Da lege ich mir Noten hin. Was, ist völlig egal. Der Blick auf die Noten reizt meinen erfinderischen Trotz und bringt mich auf Ideen, auf die ich sonst nicht käme.
Ein Begriff, der für Ihre Improvisationen besonders wichtig ist, lautet Extempore. Was bedeutet er für Sie?
Das, was er heißt: ?Aus der Zeit entnommen?. Aus der Zeit bedeutet aus der Jetztzeit. Ein musikalisches Ideal, das ich persönlich habe: Nichts ist wichtiger als in diesem Moment und Augenblick wach zu sein für das, was man gerade tut. Ich will Musik nicht in ihre eigene Überlieferungsgeschichte pressen. Wieso muss man alles buchstäblich umsetzen? Warum hält man einen punktierten Notenwert im Sinne der Erzeugung von Spannung nicht einfach so lange aus, bis es einen weitertreibt, es gar nicht anders mehr geht? Wieso nimmt man die Notenschrift nicht als Abstraktion? Entscheidend ist doch die Idee, die da war, bevor daraus eine Partitur wurde.
Das Gespräch führte Miquel Cabruja.
(06/2011)